Quelle:
Ärzte Zeitung
Aus
Schmuddelkindern werden gesunde Erwachsene
Die unter Experten kaum noch umstrittene „Hygiene-Hypothese“
wird schon bald die Basis einer völlig neuartigen Behandlung entzündlicher
Darmerkrankungen
sein. Lebende Eier vom Schweine-Peitschenwurm werden demnächst
zum Hauptbestandteil eines neuen, hochwirksamen Arzneimittels.
von Dr. med. Jochen Kubitschek
Sollten Eltern den unvergessenen Ohrwurm des Liedermachers Franz
Josef Degenhart „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern..“ als praktische
Anweisung für die Kindererziehung fehlinterpretiert haben, so
ist spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, um über eine drastische
Senkung des familiären Hygiene-Standards nachzudenken.
Bisher haben Ärzte und Nicht-Mediziner gleichermaßen „Schmutz“
in jeder Form als bedrohliche Gefahrenquelle angesehen, die es
unter Einsatz möglichst vieler Desinfektions- und Putzmittel zu
neutralisieren galt. Eine Umwelt die uns unter anderem mit einer
unüberschaubaren Zahl von Viren, Bakterien und überall wuselnden
Einzellern konfrontiert, wird von den meisten Menschen als eine
einzige große Quelle für bösartige Krankheitserreger verstanden.
Doch in den letzten Jahren mehrten sich die Hinweise, daß es sich
bei dieser Sichtweise womöglich um eine der schwerwiegendsten
Mißverständnisse innerhalb der Medizin-Lehre handeln könnte.
Erst die „Hygiene-Hypothese“ hilft Krankheiten zu verstehen
Die Anhänger der „Hygiene-Hypothese“ sind nämlich fest davon überzeugt,
daß der frühzeitige, intensive Kontakt mit möglichst vielen ungefilterten
Umweltreizen für die Entwicklung des körpereigenen Immunsystems
unabdingbar ist. Je höher die Hygiene-Standards, desto schwächer
entwickelt ist das Immunsystem. Die Folge ist eine besorgniserregende
Zunahme von Allergien, Hautekzemen und auch von schwer zu behandelnden
Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (Informationen
hier: http://www.autoimmun.org/erkrankungen/morbus_crohn.html)
Dabei spielt die Tatsache offenbar eine besondere Rolle, daß die
derzeit lebenden Generationen die ersten Menschen sind, die kaum
noch Kontakt zu Körperparasiten aus der Familie der Würmer haben.
Diese Tatsache führte nun zur Entwicklung einer völlig neuen Therapie
dieser Darmerkrankungen.
"Ekel-Therapie" ist erfolgreich
Für Robert Wallis (Die Redaktion hat den Namen geändert) begann
die an ein Wunder erinnernde Verbesserung seiner Lebensqualität
mit einem wirklich ekligen Erlebnis, als er erstmalig auf Anraten
seines Arztes eine Aufschwemmung von lebenden Wurmeiern hinunterwürgte.
Seit Jahren litt der 54jährige Familienvater unter immer wiederkehrenden
Durchfällen, Bauchmerzen und Übelkeit. Die bisherige medikamentöse
Behandlung hatte immer nur kurzfristig geholfen und die im Beipackzettel
nachzulesenden drohenden Nebenwirkungen der schulmedizinischen
Behandlung waren auch nicht dazu angetan, die Stimmung des abgemagerten
Patienten zu verbessern. Daher mußten sich die behandelnden Ärzte
um Dr. R.W. Summers von der Universität von Iowa nicht sehr anstrengen,
um Wallis zur Teilnahme an einer auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig
erscheinenden Studie zu überreden.
Zusammen mit 28 Leidensgenossen sollte er 24 Wochen lang alle
21 Tage jeweils rund 2.500 lebende Eier des Schweine-Peitschenwurms
( Trichuris Suis Ova = TSO-Therapie) schlucken. Das hörte sich
allerdings in der Theorie schlimmer an, als es in Wirklichkeit
ist. Da die Wurmeier mit einem zwanzigstel Millimeter zu klein
sind, um mit dem bloßen Auge wahrgenommen zu werden, hält sich
auch der zu überwindende Ekel schon ab der zweiten Anwendung des
unkonventionellen Arzneimittels in Grenzen.
Lebende Wurmeier helfen drei von vier Patienten
Offenbar nach dem Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“
blieben die meisten Patienten am Ball. Nach 24 Wochen war die
Sensation perfekt. Die im angesehenen Fachblatt Gut ( Gut 2005,54:87-90)
veröffentlichten Ergebnisse zeigten, daß rund 80% der Patienten
eine deutliche Verbesserung ihrer Darmbeschwerden angaben. Bei
72% der Patienten konnten die Ärzte eine Heilung (Remission) feststellen.
Robert Wallis konnte es kaum glauben. Nach vielen Jahren konnte
er erstmalig wieder ganz normal essen, ohne Darmkrämpfe und endlose
Durchfälle fürchten zu müssen. Wie diese Bio-Immuntherapie wirkt,
ist noch nicht restlos aufgeklärt. Immunologen vermuten aber,
daß die Wurmeiner die Aktivität der entzündungshemmenden T-Helferzellen
vom Typ 2 verstärkt.
Damit erwies sich diese Studie als ein weiterer Baustein, der
die Richtigkeit der Hygiene-Hypothese zu belegen scheint. Die
Anhänger dieses Erklärungsmodells sind der Auffassung, daß viele
der in den vergangenen Jahren vermehrt vorkommenden Krankheiten
dadurch zustande kommen, daß insbesondere kleine Kinder im ersten
Lebensjahr keinen Kontakt zu bestimmten Schadsubstanzen haben,
die das Immunsystem anregen. Die Rede ist in erster Linie von
allergischen Erkrankungen, die wie das Asthma in der Zeit von
1980 bis 1994 um 75% zugenommen haben. Die Zahl der wichtigsten
Allergien hat sich zwischen 1985 und 2000 verdoppelt. Aber auch
entzündliche Darmerkrankungen fallen in diese Kategorie.
Dabei gehen die Wissenschaftler natürlich nicht davon aus, daß
es der in den hygienenärrischen modernen Industriestaaten fehlende
Dreck ist, der die Saat für eine oft lebenslängliche Abwehrschwäche
produziert. Es sind vielmehr ganz konkrete Umweltreize, die fehlen
– darunter nehmen die heute kaum noch zu beobachtenden Darmparasiten
(Darmwürmer) neben den Erregern der üblichen Kinderkrankheiten
eine noch viel zu wenig beachtete Sonderrolle ein.
Von Nichts kommt Nichts: Immunsystem muß man wie die Muskeln trainieren
Der Immunologe Subra Kugathasan vom Medical College of Wisconsin
brachte es auf der Website Health Link so auf den Punkt: „Es hat
schließlich gute Gründe, warum wir überhaupt ein Immunsystem haben.
Um den Körper wirksam schützen zu können, muß das Immunsystem
erst einmal funktionstüchtig gemacht werden. Zu diesem Zweck muß
insbesondere der Organismus kleiner Kinder unbedingt Kontakt zu
möglichst vielen Schadstoffen haben, darunter auch Krankheitserreger,
die das Immunsystem später erfolgreich bekämpfen soll. Nur wenn
das Immunsystem schon früh die Bekanntschaft der „bösen Jungs“
macht, kann es effektiv funktionieren.“
Der Wissenschaftler verglich das Immunsystem mit den wichtigsten
Muskeln des Körpers: „Man kann seine Muskeln nicht in Form bringen,
wenn man nicht trainiert.“ Damit erhalten jene Beobachtungen einen
Sinn, die belegen, daß kleine Kinder, die auf Bauerhöfen aufwachsen
und schon früh Kontakt zu den allgegenwärtigen Ausscheidungen
der Nutztiere, bzw. zu Haaren und Hautschuppen von Haustieren
haben, später gesünder sind als die Nachkommen von Müttern, die
als Putzteufel einen Hygiene-Fimmel kultivieren.
Zunahme der Blinddarmentzündungen war Initialzündung
Die Initialzündung für die Entwicklung der Hygiene-Hypothese geht
angeblich auf die Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen entwickelten
Ländern beobachtete explosionsartigen Zunahme der Blinddarmentzündungen
zurück. Damals befanden sich die Ärzte in einem Erklärungsnotstand,
da die selbst für die Unterschicht verbesserten Hygienestandards
ja eigentlich das Gegenteil bewirken sollten.
Doch in der Rückschau stellte der Epidemiologe Alfredo Pisacane
und seine Kollegen im angesehenen British Medical Journal die
These auf, daß insbesondere die Ende des 19ten Jahrhunderts erreichte
Verbesserung der Abwasserentsorgung und die Optimierung des Trinkwasserqualität
daran schuld seien, daß die kleinen Kinder im entscheidenden ersten
Lebensjahr sehr viel seltener Kontakt zu Darmparasiten hatten,
die wie die unterschiedlichsten Würmer den menschlichen Darm in
ein Fitneß-Center des Immunsystems verwandeln. Durch die Zurückdrängung
der Wurmerkrankungen wird das Training des Immunsystems sabotiert.
Gleichzeitig wird offenbar der Boden für zahlreiche Krankheiten
bereitet, die ein gesundes Immunsystem normalerweise ohne große
Anstrengungen einfach verhindern könnte.
Ohne Parasiten keine Gesundheit
Die Erkenntnis, daß Darmentzündungen dort besonders häufig sind,
wo Darmparasiten selten gefunden werden, erklärt, warum in Zukunft
eine künstliche Infektion mit den Eiern des Schweine-Peitschenwurms
nicht nur den unter Morbus Crohn leidenden Patienten helfen soll,
sondern auch den unter Colitis ulcerosa leidenden Kranken.
Jede Dosis des neu entwickelten Arzneimittels, das das Unternehmen
Ovamed in Barsbüttel bei Hamburg in Zukunft als Rezeptur-Arzneimittel
herstellen will, enthält wie in der US-Studie 2.500 in einer sterilen
Flüssigkeit aufgeschwemmte Wurmeier. "Wir sind kurz davor
und recht zuversichtlich, in diesen Tagen das behördliche Okay
für das Rezeptur-Arzneimittel zu bekommen", sagte Detlev
Goj, Geschäftsführer von Ovamed der Ärzte Zeitung. Nach dem deutschen
Arzneimittelrecht gelten Mittel, die nicht auf Vorrat herstellbar
werden, als Rezeptur-Arzneimittel. Sie werden erst nach Verordnung
durch den Arzt zubereitet. Die deutsche Herstellerfirma arbeitet
eng mit den Forschern der Universität von Iowa zusammen, die die
erste wichtige Studie zur TSO-Therapie durchgeführt haben. Das
deutsche Unternehmen hat von der Universität Iowa die Lizenz erhalten,
TSO zu produzieren und zu vermarkten.
Schweine-Peitschenwurm für Therapie ideal geeignet
Die Immunologen haben sich für den Schweine-Peitschenwurm entschieden,
da der Mensch für die Eier dieses winzigen Wurms kein natürlicher
Wirt ist. Die Eier überleben daher nur kurz. Sie erzeugen im menschlichen
Darm keine unangenehmen Symptome wie beispielsweise Bauchschmerzen
oder Durchfall. Die bei der Therapie verwendeten Eier werden bei
der Zubereitung des Rezeptur-Arzneimittels sterilisiert, aber
nicht abgetötet. Die neutrale Aufschwemmung wird von den Patienten
geschluckt, so daß sich die Eier im Zwölffingerdarm ansiedeln
können. Dort überleben sie 14 Tage und können so das Immunsystem
mittelfristig anregen. "Gelegentlich kann es vorkommen, daß
hier und da mal ein kleiner Wurm aus den Eiern schlüpft. Dieser
stirbt aber sofort wieder ab und verkümmert, weil er im falschen
Wirt ist", sagte Goj zur Ärzte Zeitung.
Neben dem Morbus Crohn scheint auch die von den Erkrankten besonders
gefürchtete, geschwürbildende Darmentzündung – die Ärzte sprechen
von der Colitis ulcerosa - für die im wahrsten Sinn des Wortes
unhygienische Wurmtherapie geeignet zu sein. Im Fachblatt Gastroenterology
wurde eine Studie veröffentlich, bei der 54 unter einer chronischen
und nur schwer zu behandelnden Colitis ulcerosa leidende Patienten
alle zwei Wochen entweder TSO oder ein Scheinmedikament eingenommen
hatten. Nach zwölf Wochen hatten 13 von 30 Patienten (43 Prozent)
positiv auf die TSO-Therapie reagiert. In der Placebogruppe traf
das dagegen nur auf vier von 24 Patienten (17 Prozent) zu.
|