Quelle: Fachblatt Archives of Disease in Childhood
Fatale
Bequemlichkeit: Kaiserschnittgeburten
behindern offenbar beim Neugeborenen die Entwicklung eines robusten
Immunsystems und verdoppeln so im ersten Lebensjahr das Risiko
für die Entstehung einer Lebensmittelallergie.
von
Jochen Kubitschek
Immer
mehr werdende Mütter schrecken aus zum Teil irrationalen Gründen
vor einer normalen Geburt zurück und verlangen vom behandelnden
Geburtshelfer ultimativ die Durchführung einer unter medizinischen
Laien als weniger belastend geltenden Geburt durch Kaiserschnitt
– oft ohne daß es für diese problematische Entscheidung nachvollziehbare
Gründe gibt. Dieser Trend zu einer „Geburt light“ hält weiter
an. Im Jahr 2001 wurden in deutschen
Krankenhäusern insgesamt 715 100 Entbindungen registriert,
bei denen 724 600 Kinder lebend zur Welt kamen. 161 500
dieser Entbindungen erfolgten durch einen Kaiserschnitt. Dies
entspricht einem Anteil von 22,6%. Das war nicht immer so. 1991
lag der Anteil der Entbindungen durch Kaiserschnitt noch bei
15,3%.
Daß
dieser Drang hin zu einer weniger schmerzhaften Entbindung unter
Umständen mehr als eine modische Verirrung darstellt, machte jetzt
eine wissenschaftliche Studie deutlich, die an der Ludwig-Maximilians-Universität
in München angefertigt und nun im Fachblatt Archives
of Disease in Childhood publiziert wurde.
Eine Wissenschaftlergruppe um Dr. Sibylle Koletzko
hatten im Zuge der Untersuchung die Daten von 865 gesunden Neugeborenen
analysiert, deren Eltern unter eine Allergie
litten. Alle Neugeborenen wurden von den Müttern vier Monate lang
gestillt und von den Forschern ein Jahr lang beobachtet. Die Eltern
führten ein Tagebuch in dem sie alle bei den Kindern beobachtete
, für eine Allergie typischen Symptome sowie akute Magen-Darm-Beschwerden
notierten. Unmittelbar nach der Geburt,
sowie nach einem Jahr wurden außerdem Blutuntersuchungen durchgeführt,
die Auskunft über die Abwehrfunktion (IgE=Immunglobulin E) des
kindlichen Immunsystems gaben.
Der
direkte Vergleich zwischen den bei den Kaiserschnitt-Kindern und
den vaginal geborenen Kindern registrierten Gesundheitsdaten ergab
am Ende der Studie überraschend deutliche Unterschiede.
Am
auffälligsten war die Tatsache, daß die mit Hilfe eines Kaiserschnitts
entbundenen Kinder ein um 46% erhöhtes Risiko für Durchfallerkrankungen
hatten. Wesentlich schwerwiegender war aber die Entdeckung, daß
ein Kaiserschnitt offenbar das Risiko für die Entstehung einer
Lebensmittelallergien auf 106% mehr als verdoppelte.
Im Gegensatz hierzu litten die Kaiserschnitt-Kinder
nicht gehäuft unter schmerzhaften Darmkoliken oder den bei Kleinkindern
weit verbreiteten und stark juckenden Hautentzündungen (atopische
Dermatitis).
Die
Autoren der Untersuchung konstatierten zufrieden, daß die Studienergebnisse
offenbar eine derzeit bei Kinderärzten und Allergologen gleichermaßen
weit verbreitete Hypothese bestätigt, mit deren Hilfe die bei
Kleinkindern beobachtete Zunahme der Lebensmitteallergien erklärt
werden soll. Die Experten gehen von einem deutlichen ursächlichen
Zusammenhang zwischen der seit einigen Jahren beobachteten Zunahme
von Lebensmittelallergien und dem Zustand
der Bakterienbesiedlung des kindlichen Darms aus. Nach ihrer Meinung
wird die Darmflora der Neugeborenen beim langsamen Durchtritt
des kindlichen Körpers durch die reichlich mit Bakterien besiedelte
mütterliche Vagina so verändert, daß dadurch das Risiko für die
Entstehung von vermindert wird.
Im Gegensatz zur normalen vaginalen Geburt erfolgt die typische
Geburt durch Kaiserschnitt unter nahezu sterilen Bedingungen.
Dadurch werden zwar die drohenden Infektionen der offenen OP-Wunde
der Mutter verhindert, aber gleichzeitig auch -
was der besagten Hypothese nach sehr viel weniger wünschenswert
ist - die „Infektion“ des kindlichen Magen-Darmtraktes mit wichtigen
Bakterienstämmen, die regelmäßig in Scheide und Darm der Gebärenden
leben.
Schon
seit einigen Jahren wird von den Immunologen vermutet, daß die
generelle Zunahme von Allergien auf eine Abnahme der früher in
den Kindheit regelmäßig auftretenden Bagatellinfekte zurück geführt
werden muß. Danach liegt der Verdacht
nahe, daß der gelegentlich hysterisch anmutende Kampf gegen Schmutz
und Bakterien dazu führt, daß dem kindlichen Immunsystem eine
wichtige Trainingsmöglichkeit der eigenen körperlichen Abwehr
genommen wird.
Quelle: Arch Dis Child 2004;89:993-997
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